1946 – 1948 Mischket Liebermann III

Noch einige Auszüge aus dem Buch.
[Mischket Liebermann; Aus dem Ghetto in die Welt; Verlag der Nation 1977; 3. Auflage 1995; ISBN 3-373-00495-0; S 268 ff]

Er nimmt einen Stoß Zettel aus seiner Tasche und legt ihn mir auf den Tisch. Einige sind schon zerschlissen. Verse über den Frühling, Verse über den Herbst, Verse an die Mutter. Nicht unbegabt. Ein Theaterstück gegen die braune Pest ist dabei. Politisch verworren, voller Mystik. Ich lese es und sage es ihm. Er begreift nicht. Kann es auch noch nicht. Aber der Wille ist da.

Er wird also ins Lager 1 versetzt, zum Normbüro als Schreiber.

Endlich entsteht auch im Lager 1 ein eigenständiges kulturelles Leben, mit einer Kapelle, einem Quartett, einer Theatergruppe. Josef K. ist die Seele des Unternehmens. Er inszeniert „Die Räuber“ und „Der Neffe als Onkel“ von Schiller und „Tay Yang erwacht“ von Friedrich Wolf. Er schreibt eine für meine Begriffe kitschige Revue „Miss Evelin“. Da es zu Silvester ist, drücke ich ein Auge zu. Der Kapellmeister, Toni N., komponiert die Musik dazu. Es wirken viele Kriegsgefangene mit, auch Offiziere, die sich bisher von allem fernhielten.

So weit also die Aussagen von Frau Liebermann über meinen Vater. In den nächsten Artikeln folgen Auszüge aus dem Büchlein „Erinnerungen“, sozusagen dem Lagerbuch meines Vaters. Er hat es geführt von 1946 bis 1948.

1946 – 1948 Mischket Liebermann II

Das nächste Kapitel des Buches handelt von ihrer ersten Begegnung mit meinem Vater. Einige Auszüge daraus:
[Mischket Liebermann; Aus dem Ghetto in die Welt; Verlag der Nation 1977; 3. Auflage 1995; ISBN 3-373-00495-0; S 268 ff]

Gestatten, ehemaliger Gefreiter
Vor mir steht ein Kriegsgefangener, unscheinbar, hager, mit gelblich-braunem Gesicht. Und auch etwas Arroganz in seinen lebhaften Augen. „Sie sind noch nicht lange in unserem Lager?“ „Drei Wochen. Zwei davon im Lazarett.“ „Warum sind Sie nicht gleich zu mir gekommen?“ „Ich mochte nicht.“ „Und warum nicht?“
Er steht lässig da, hält das Käppi in beiden Händen, dreht es einmal rechtsrum, einmal linksrum und schweigt. „Wollen Sie sich mir nicht vorstellen?“ fordere ich ihn auf, um das Schweigen zu brechen.
Der junge Mann, der sich soeben noch unkonventionell verhielt, nimmt plötzlich Haltung an. Nicht ohne Ironie leiert er runter: „Gestatten, ehemaliger Gefreiter Josef K. vom Fünfhundertfünfunddreißigsten Panzergrenadierregiment der Sechsten Armee.“

Auf die Frage „Was können Sie?“ antwortet er:

„Was ich kann? ehrlich gesagt nichts. Ich war zwanzig, als ich vor zwei Jahren am Heiligabend mit fünfzehn anderen Kameraden in Kriegsgefangenschaft ging. Hab´zwei Jahre Zeitungswissenschaften studiert.“ „Was hat Sie dazu bewogen, überzulaufen?“ „Ich war Nazigegner aus meiner Religiosität heraus.“ „Und die anderen?“ „Hatten die Schnauze voll vom Krieg.“

1946 – 1948 Mischket Liebermann I

Die Schauspielerin Mischket Liebermann kontaktierte, Anfang der 70er Jahre meinen Vater, als sie für Ihre Lebenserinnerungen recherchierte. In Ihrem Buch „Aus dem Ghetto in die Welt“ schreibt sie aus ihrer Zeit als Politinstrukteur in den Kriegsgefangenenlagern Wladimir und Susdal (Zeitraum nicht genau benannt, aber wahrscheinlich Herbst 1946) folgendes:
[Mischket Liebermann; Aus dem Ghetto in die Welt; Verlag der Nation 1977; 3. Auflage 1995; ISBN 3-373-00495-0; S 267 ff]

Erst spät kommt Alexandra Belikowa heim. Ich habe schon etwas ausgeruht. Ihre Gedanken sind noch immer im Lazarett.
„Was ist mit dem Kriegsgefangenen, den ich vor einer Woche zu Ihnen schickte?“ fragt sie mich. „Bei mir hat sich keiner gemeldet.“
„Nanu! Er hat Malaria und kann nicht draußen arbeiten. Im Lazarett schreibt er ununterbrochen Gedichte, Theaterstücke. Und Majakowski hat er rezitiert. Auf russisch. Ich dachte, so einen könnten Sie im Aktiv gut gebrauchen.“
„Das schon. Aber ich kann ihn nicht freistellen. Vielleicht bringen wir ihn in der Innenkompanie unter?“
„Einverstanden. Eine leichte Arbeit kann er verrichten. Er heißt Josef … Ich behalte die deutschen Namen nicht.“

[S. 268]

Montag früh gehen Dr. Belikowa und ich zusammen ins Lager. Wir suchen den Josef. „Josefs gibt´s bei uns in rauhen Mengen“, sagt Kommandant T. „Skoro budet, Frau Doktor.“ Frau Doktor geht beruhigt ins Lazarett, der Kommandant durch die Baustellen! Und bringt mir den Josef bald an.