Ein Brief aus der Sowjetunion

In den 60er Jahren arbeitete die Ehefrau eines sowjetischen Offiziers für meinen Vater als Schreibkraft. Mein Bruder und ich können uns leider nicht mehr an den Namen erinnern, aber ein Photo aus dieser Zeit konnten wir identifizieren. Ein zweites Photo zeigt sie, allerdings nur von hinten, im Industrieladen Foto-Kino-Optik (ILAFOT) in Leipzig. Die eigentlich, wahrscheinlich, wichtige Person auf dem Bild scheint aber die junge Frau zu sein. Von dieser Mitarbeiterin meines Vaters gibt es aber einen Brief, leider ohne Unterschrift und Absender. Sie schrieb diesen Brief nach der Rückkehr in die Sowjetunion. In den nächsten Wochen werde ich noch einige alte Bekannte und Kollegen meines Vaters interviewen, vielleicht bekomme ich zu dieser Frau noch nähere Auskünfte.

Übersetzung des Briefes:

Liebe Freunde, Antoscha, Renate, Oma, Opa, Mischa, Thomas,
jetzt sind wir schon daheim, sind gut angekommen, haben die Zuweisung in unsere Stadt und für eine Wohnung durchbekommen. Wassilij arbeitet schon, ich habe Bauarbeiten gemacht, wir renovieren die Wohnung von Grund auf, unsere Sachen sind noch nicht eingetroffen. Ich kann mich noch nicht an all das gewöhnen, ich möchte arbeiten, das Klima macht mir schrecklich zu schaffen, der Kopf schmerzt noch mehr, und es scheint, keine Luft zum atmen zu geben. Wir sind Euch sehr dankbar dafür, daß wir alles dort gekauft haben, denn hier gibt es keine große Auswahl. Ich weiß nur nicht, wie alles hier ankommt, ganz oder nicht. Herzlichen Dank für den Kuchen, wir aßen ihn auf dem ganzen Weg. Unseren Verwandten und Freunden haben wir sehr viel von Euch erzählt, die Photos gezeigt. Bleibt immer gesund und lebensfroh wie stets. Sascha lernt gut, im Sommer macht er ein sechsmonatiges Praktikum. Er grüßt Euch alle und Ernst. Antoscha, schreib, was es Neues gibt bei Euch, wie es zu Hause läuft. Schreib oder komm nach Moskau. Laß mich genau wissen wann, vielleicht komme ich auch. Wenn jemand anders kommt, laß es mich auch wissen. Ich schicke dann gleich Geld. Bei uns ist es noch kalt. Was habt Ihr für Wetter? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn ich wieder arbeite, so veil ist noch mit der Renovierung und den Möbeln zu machen. Schreib, Antoscha, sei nicht schreibfaul. Wie geht es Euch dort, und was hat sich bei Euch geändert? Wir haben große Sehnsucht nach Euch, wir denken oft an Euch. Auf Wiedersehen. Wir küssen Euch. Schreib.

Vielen Dank an Peter Steger für die Übersetzung.

1969 – XX Jahre DDR

Im Jahre 1969, am 7. Oktober, wurde mit viel Aufwand der 20. Jahrestag der Staatsgründung gefeiert. Erstaunlicherweise wurde auch mein Vater in die Reihen der Ausgezeichneten aufgenommen. Abgesehen von kleineren Prämien und Dankschreiben erhielt er: die Ehrennadel des Ministeriums für Volksbildung für seine Arbeit an der Volkshochschule Leipzig.

Bereits im Frühjahr 1969 wurde die ständige Arbeitsgruppe Elektrotechnik-Elektronik-Automatisierung der Dolmetscher und Übersetzer Leipzig vom Solidaritätskomitee der DDR gewürdigt und auch Auftraggeber wie das Institut für Wasserwirtschaft beim Ministerrat der DDR schlossen sich an.

10 Jahre nach der Verhaftung durch das MfS war scheinbar Ruhe in sein Arbeitsleben und sein privates Leben eingezogen.

Die Auftragslage war gut, Lehraufträge an der Volkshochschule Leipzig und der Karl-Marx-Universität Leipzig bestanden weiterhin, die Arbeit in der Vereinigung der Sprachmittler (VdS) lief auf vollen Touren und familiär gab es auch keine großen Probleme.

Im Nachhinein betrachtet, zeichneten sich aber schon in dieser Zeit die nächsten Konflikte mit Kollegen ab, unter anderem mit denen, die bereitwillig 1959 gegen ihn ausgesagt hatten.

1966 – 1968

Für diese und die folgenden Jahre liegen mir noch zu wenige Unterlagen und Dokumente vor, so dass ich zu großen Teilen auf meine Erinnerungen zurückgreifen muss.
Da, trotz aller Arbeit, das Geld nicht reichte, arbeitete meine Mutter zu den Leipziger Messen als Standhilfe bei einer dänischen Firma. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt produzierte diese Kühlgeräte. Ich erwähne dies, weil sich daraus erstmals Kontakte zu Bürgern aus dem „nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“ (NSW) ergaben, an denen auch mein Bruder und ich Anteil hatten. Die Familien Andersen und Nielsen besuchten uns nämlich während unserer Urlaube in Ungarn.

Bis auf kleinere Geschenke und das Geld, welches meine Mutter offiziell verdiente, hatte diese Bekanntschaft aber keinen weiteren Einfluss auf unser Familienleben.
1968 fand unser vorerst letzter Ungarnurlaub statt. Am Abend des 20. August überquerten wir mit dem Zug die Grenze zwischen der CSSR und der DDR, um am Morgen des 21. August zu erfahren, dass die Truppen des Warschauer Vertrages in die CSSR einmarschiert waren. Aus den Berichten einiger Bekannter, die sich zu dieser Zeit noch in Ungarn oder in der CSSR befanden, zogen meine Eltern den Schluss, dass es besser wäre, in den Folgejahren im Lande zu bleiben. Der Bruder unserer Mutter, Harald Pratsch, besaß ein Bauernhaus an der Havel in der Nähe von Premnitz. Er und seine Familie luden uns ein, die Ferien 1969 dort zu verbringen.
In den Jahren 1966 bis 1968 setzte sich der Trend in der Arbeit meines Vaters fort, es wurde mehr übersetzt, die Arbeit als Dolmetscher wurde seltener. Das hatte zur Folge, dass mein Vater den größten Teil des Tages zu Hause in seinem Arbeitszimmer verbrachte. An den Abenden unterrichtete er weiter an der Volkshochschule Leipzig, nahm an Veranstaltungen der Vereinigung der Sprachmittler (VdS) teil, organisierte dort die Arbeit der Russischgruppe oder er traf sich mit Kollegen.
Zur damaligen Zeit hatte die VdS noch keine richtigen Geschäftsräume. Die Hauptarbeit der Russischgruppe fand deshalb im Hinterzimmer der Gaststätte „Chausseehaus“ statt.