Das nächste Kapitel des Buches handelt von ihrer ersten Begegnung mit meinem Vater. Einige Auszüge daraus:
[Mischket Liebermann; Aus dem Ghetto in die Welt; Verlag der Nation 1977; 3. Auflage 1995; ISBN 3-373-00495-0; S 268 ff]
Gestatten, ehemaliger Gefreiter
Vor mir steht ein Kriegsgefangener, unscheinbar, hager, mit gelblich-braunem Gesicht. Und auch etwas Arroganz in seinen lebhaften Augen. „Sie sind noch nicht lange in unserem Lager?“ „Drei Wochen. Zwei davon im Lazarett.“ „Warum sind Sie nicht gleich zu mir gekommen?“ „Ich mochte nicht.“ „Und warum nicht?“
Er steht lässig da, hält das Käppi in beiden Händen, dreht es einmal rechtsrum, einmal linksrum und schweigt. „Wollen Sie sich mir nicht vorstellen?“ fordere ich ihn auf, um das Schweigen zu brechen.
Der junge Mann, der sich soeben noch unkonventionell verhielt, nimmt plötzlich Haltung an. Nicht ohne Ironie leiert er runter: „Gestatten, ehemaliger Gefreiter Josef K. vom Fünfhundertfünfunddreißigsten Panzergrenadierregiment der Sechsten Armee.“
Auf die Frage „Was können Sie?“ antwortet er:
„Was ich kann? ehrlich gesagt nichts. Ich war zwanzig, als ich vor zwei Jahren am Heiligabend mit fünfzehn anderen Kameraden in Kriegsgefangenschaft ging. Hab´zwei Jahre Zeitungswissenschaften studiert.“ „Was hat Sie dazu bewogen, überzulaufen?“ „Ich war Nazigegner aus meiner Religiosität heraus.“ „Und die anderen?“ „Hatten die Schnauze voll vom Krieg.“