1946 – 1948 Kultur im Lager I

Für diesen Zeitraum liegen mir ein Büchlein aus dem Lager und Postkarten an meine Großeltern vor. Auf diese werde ich mich im Folgenden beziehen.
Das Büchlein „Erinnerungen“ enthält Lyrik, Widmungen, Plakatentwürfe und Porträts die in den Jahren 1946 – 48 von meinem Vater, Mitgefangenen aber auch Prominenten verfasst wurden. In diesen Zeitraum fällt auch die Nachricht von der Vertreibung seiner Eltern, die ihn zu folgendem Gedicht inspirierte.

Briefe, die ich las.
Von Sepp Köhler
Ich hab so manchen Brief studiert, / Der aus der Heimat kam / Es hat mich manches tief gerührt, / Das ich dabei vernahm.
Voll Kälte war der eine Brief, /  Schablonenhaft und leer. / Von Liebe mutet mancher Schrieb / Mich an und sehnsuchtsschwer.
An den Geliebten schreibt die Braut, / Die Mutter an den Sohn / Und Menschen, die sich stets vertraut / Belächeln sich mit Hohn.
Man schrieb von langer Trennungszeit, / Von einer schwachen Stund / Wie man gebrochen durch das Leid / Vergaß der Ehe Bund.
Wie dann in einer stillen Nacht / Der letzte Schritt gescheh´n / Man möchte, daß der Andre lacht, / Und trotzdem soll versteh´n.
Die Mutter schreibt an ihren Sohn, / Der Vater tröstet ihn. / Oftmals spricht man ja nicht davon, / Was dennoch ist gescheh´n.
Da fällt ein Brief in meine Hand, / Der nicht viel Worte macht. / An mich ist dieser Brief gesandt, / Geschrieben in der Nacht.
Verloren Heimat, Hof und Haus! / Von Tränen heiß benetzt, / Breitet das Blatt sich vor mir aus. / Man heißt uns Bettler jetzt!
Ich schieb den Brief zur Seite hin / Und greif den nächsten mir: / „sind ausgebombt und müssen zieh´n, / zu fremden ins Quartier.
Verloren alles und zerstört!“ / Mit Tränen heiß benetzt, / Die Karte, die dem Freund gehört / „Man heißt uns Bettler jetzt!“
Und eine ganze lange Reih´ / von Karten, die ich sah´ / Sie lauteten so einerlei: / „sind Bettler heute! Ja.
Wir sind verarmt und überall / sieht man uns gar nicht gern, / Sind Bettelvolk und Bettelschwall / Vor Augen dieser Herrn!“
Die andre Seite schreibt dazu, / Daß es ihr recht gut geht. / Es habe heute jeder Ruh, / der das Geschäft versteht.
Theater, Kino und Musik / Und Barbetrieb, Likör / „Wir hatten wirklich großes Glück! / Was will man heut noch mehr.“
Doch von den Bettlern nicht ein Wort, / Man hat mit sich zu tun´ / Man bracht sie her u. Hol sie fort, / Man will nur seine Ruh´.
Das Rad der Zeit, es hält nicht an / Und bahnt sich durch die Flut. / Zermalmt wird durch die Zeitenbahn / Der Menschen Gut und Blut.
Und Briefe, stille Zeugenschaft, / Mit Tränen heiß benetzt. / Sie schreien, stapelweis gerafft: / „Man nennt uns Bettler jetzt!“

Dazu schrieb ein Kamerad:

Sepp Köhler liest eigene Dichtung

Wohl selten dürfte gerade auf uns als Kriegsgefangene eine literarische Veranstaltung solch einen tiefen Eindruck hinterlassen haben, wie die am 20.12.47, in der Sepp Köhler uns eigene Dichtung, dieses mal ernster Natur, zu Gehör brachte.

Nehmen wir als Beispiel sein Gedicht „Briefe, die ich las“. Auch derjenige, den das Schicksal verschont hat, musste fühlen, wie schwer es ist, seine Heimat zu verlieren. Und wie musste erst recht demjenigen dieses Werk gepackt haben, der zu diesen schwer geprüften Menschen zählt, zumal der Vortragende selber ein Leidensgefährte von ihnen ist.

Es würde zu weit führen, jedes der vorgetragenen Gedichte zu besprechen. Gepackt war man vom ersten bis zum letzten. Jedes Gedicht war persönliches Erlebnis.
Danken wir unserem Sepp Köhler für diese eindrucksvolle Stunde, danken wir ihm damit, indem wir ihm von Herzen weiter Erfolg für sein dichterisches Talent wünschen.
Auch Peter Becker wollen wir nicht vergessen, der mit seinem Quartett dem Abend einen würdigen Rahmen gab. Ebenfalls Dank und Anerkennung. Der von Herzen gespendete Beifall war wohl der schönste Lohn für unseren Vortragenden.

Horst Wülfing

Lieber Sepp! Zur Erinnerung an gemeinsam verlebte Gefangenschaft habe ich Dir diese Zeilen in dieses Büchelchen geschrieben. Weiter guten Erfolg und baldige Heimkehr. In herzlicher Kameradschaft
Dein Horst Wülfing

1946 – 1948 Mischket Liebermann III

Noch einige Auszüge aus dem Buch.
[Mischket Liebermann; Aus dem Ghetto in die Welt; Verlag der Nation 1977; 3. Auflage 1995; ISBN 3-373-00495-0; S 268 ff]

Er nimmt einen Stoß Zettel aus seiner Tasche und legt ihn mir auf den Tisch. Einige sind schon zerschlissen. Verse über den Frühling, Verse über den Herbst, Verse an die Mutter. Nicht unbegabt. Ein Theaterstück gegen die braune Pest ist dabei. Politisch verworren, voller Mystik. Ich lese es und sage es ihm. Er begreift nicht. Kann es auch noch nicht. Aber der Wille ist da.

Er wird also ins Lager 1 versetzt, zum Normbüro als Schreiber.

Endlich entsteht auch im Lager 1 ein eigenständiges kulturelles Leben, mit einer Kapelle, einem Quartett, einer Theatergruppe. Josef K. ist die Seele des Unternehmens. Er inszeniert „Die Räuber“ und „Der Neffe als Onkel“ von Schiller und „Tay Yang erwacht“ von Friedrich Wolf. Er schreibt eine für meine Begriffe kitschige Revue „Miss Evelin“. Da es zu Silvester ist, drücke ich ein Auge zu. Der Kapellmeister, Toni N., komponiert die Musik dazu. Es wirken viele Kriegsgefangene mit, auch Offiziere, die sich bisher von allem fernhielten.

So weit also die Aussagen von Frau Liebermann über meinen Vater. In den nächsten Artikeln folgen Auszüge aus dem Büchlein „Erinnerungen“, sozusagen dem Lagerbuch meines Vaters. Er hat es geführt von 1946 bis 1948.