Die Büchse der Pandora ist geöffnet – ein Jahr später

Eigentlich wollte ich natürlich nur einige Details zu meiner Geschichte klären. Meine Mutter hatte 1994 eine Rehabilitation für die Haftzeit 1959/60 und eine Haftentschädigung für diese beim Amtsgericht Leipzig eingeklagt. Die Klage wurde abschlägig beschieden, aber dadurch kamen die ersten Unterlagen des MfS in meine Hände. Dort hieß es zu meinem Erstaunen in einem Dokument von 1959, dass Josef Köhler „inoffizieller Mitarbeiter der sowjetischen Sicherheitsorgane“ war.
Ein Jahr nach dem Öffnen der Büchse der Pandora las sich die Geschichte in den Grundzügen schon anders. Dazwischen lag ein umfangreiches Aktenstudium bei der BStU, erste Kontaktaufnahmen mit Zeitzeugen und das Auffinden von Dokumenten aus anderen Quellen.
Euer (Ur) Großvater wurde 1923 in einem kleinen Erzgebirgsdorf, in der heutigen tschechischen Republik, geboren. Seine Eltern waren streng katholische Bauern und Handwerker, die ihren Sohn für den Priesterberuf vorgesehen hatten, deshalb besuchte er auch das bischöfliche Knabenseminar in Mariaschein. Im Jahre 1939 wurde das damals tschechische Gebiet dem Deutschen Reich einverleibt, das Seminar wurde geschlossen und Josef musste auf eine öffentliche Schule wechseln. Zwangsweise wurde er dort Mitglied der Hitlerjugend. Weil er den Kontakt zu seinen tschechischen Freunden nicht abbrechen wollte, wurde er aus dieser Organisation unehrenhaft entlassen. Dadurch wurde das Verbleiben an der Schule unmöglich, er wechselte zuerst an eine andere Schule und ging schließlich nach Leipzig. Seit dieser Zeit war er ein erklärter Gegner der Nationalsozialisten. In Leipzig besuchte er einen Lehrgang für Englisch, hörte Vorlesungen in Journalismus und schlug sich so recht und schlecht durch. Nach Aussage eines Zeitzeugen (aus späteren Jahren) war er eventuell sogar im Widerstand tätig.
1942 wurde Josef zur Wehrmacht einberufen, dort zum Panzergrenadier ausgebildet und besuchte im Anschluss an die Grundausbildung einen Kriegsoffiziersbewerberlehrgang. Ende 1942 wurde Josef an die Ostfront, nach Stalingrad, geschickt. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit lief er zur Roten Armee über, er kämpfte auf sowjetischer Seite und wurde später, in ein Kriegsgefangenenlager geschickt. Dort arbeitete er in der Lagerleitung und auf kulturellem Gebiet. 1946 verpflichtete er sich zur Zusammenarbeit mit den sowjetischen Behörden. Ende 1948 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und er ging nach Leipzig wo er bei der Deutschen Volkspolizei arbeitete und Mitglied der SED wurde. Er war Dolmetscher für einen sowjetischen Berater, Fahnder bei der Kriminalpolizei und wieder Kulturfunktionär. Weiterhin arbeitete er ehrenamtlich in der Stadtbezirksleitung der SED.
1950 kündigte er den Dienst bei der Polizei, legte seine Begabtenprüfung ab und begann ein Studium der Russischen Sprache an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Josef holte seine Eltern, die aus ihrer Heimat vertrieben waren, nach Leipzig und hatte ein eheähnliches Verhältnis.
Mitte 1951 wurde er in Berlin vom MfS verhaftet, dem MWD (später KGB) übergeben und nach halbjähriger Haft in ein Lager bei Workuta geschickt. Die Anklage lautete auf Geheimnisverrat und antisowjetische Tätigkeit. Von Workuta aus wurde er 1953 in das Übergangslager Tapiau geschickt und Ende 1953 entlassen. Da sein Verbleib nicht bekannt war, wurde Josef, wegen des Verdachtes auf Republikflucht, aus der SED ausgeschlossen und von der Universität exmatrikuliert.
Josef ging nach der Entlassung wieder nach Leipzig, lernte dort seine spätere Frau kennen, die in Untermiete bei seinen Eltern wohnte, und machte sich als Dolmetscher und Übersetzer selbständig. Mit Kollegen zusammen gründete er einen erfolgreichen Übersetzerbetrieb. Einige seiner Kollegen waren, wie er, inoffizielle Mitarbeiter des KGB. Dies legt nahe, dass der Betrieb vom KGB unterstützt wurde. Somit war es möglich Großaufträge zu akquirieren, die normalerweise nur an staatliche Betriebe vergeben wurden. Dieser Betrieb war aber zu erfolgreich und machte dem staatlichen Übersetzerbetrieb Konkurrenz. Deshalb wurde Josef am 24. Dezember 1959 von der Stasi verhaftet, ohne Verfahren mehrere Monate eingesperrt und der Betrieb wurde verstaatlicht. Hier endete auch die Zusammenarbeit mit dem KGB.
Euer (Ur) Großvater arbeitete also trotz alle Erschwernisse weiter in seinem Beruf, engagierte sich gesellschaftlich im Berufsverband der Dolmetscher und Übersetzer und lehrte Russisch an der Volkshochschule. Trotz aller Bemühungen war das Geld manchmal knapp, Aufträge blieben aus, aber er meisterte dies mit seiner Frau gemeinsam.
Gegen 1987/88 nahm das Ministerium für Staatssicherheit, eben die Leute die ihn bis dahin verfolgt hatten, Kontakt zu ihm auf. Grund waren seine guten Kontakte zu sowjetischen Bürgern und seine gesellschaftliche Arbeit. Natürlich war der Hauptgrund die Perestroika in der Sowjetunion unter Gorbatschow. Er nutzte diese Kontakte um Kollegen zu helfen, ansonsten begrüßte er die Entwicklung in der Sowjetunion aus vollem Herzen.
Die Wende in der DDR begrüßte er ebenfalls, aber nicht die Vereinigung mit der Bundesrepublik.
1991 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, Parkinson wurde diagnostiziert und 1994 starb Josef im Alter von 71 Jahren.
Diese Geschichte klingt nun schon anders. War Josef in der ersten Geschichte noch sozusagen „unschuldig“ in den Zeitverlauf verstrickt, so ist die zweite Version schon anders. Besonders durch die Zusammenarbeit mit dem KGB.
Hier hörte natürlich auch langsam die Familiengeschichte für Kinder und Enkel auf, die man an einem Winterabend erzählt. Dafür beginnt die Geschichte von Josef A. Köhler.

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