Erzählung über die Kriegsgefangenschaft

In den 80er Jahren versuchte mein Vater ein Buch über die Kriegsgefangenschaft zu schreiben. Erhalten sind davon nur Fragmente, aus denen ich an dieser Stelle zitieren möchte. Ich habe die Teile ausgewählt in denen Namen und konkrete Ereignisse geschildert sind.
Das vorliegende Fragment schildert die Überführung von zwanzig deutschen Kriegsgefangenen vom Kloster Susdal in ein nicht näher bezeichnetes Lager.

Sie – das waren zwanzig Soldaten, Unteroffiziere und ein Feldwebel von den im Spätsommer nach ihrer Gefangenschaft aus Stalingrad in ein Lazarett nördlich von Moskau gebrachten Angehörigen der zerschlagenen 6. Armee, die kurz vor Weihnachten zu leichteren Innendienstarbeiten in das dortige Offiziers- und Generalslager verlegt worden waren, in dem sich auch ihr ehemaliger Stabschef, Generalleutnant Schmidt befand.

Es folgt eine ausführliche Schilderung des zurückgelegten Weges, die Beschreibung der Wachposten und eine kurze Beschreibung des Erzählers (Sepp):

Die Männer in den feldgrauen Uniformen hatten ihr Gepäck, ihre Mäntel und Feldmützen abgelegt, die Uniformjacken aufgeknöpft, an denen die einen noch ihre Kriegsauszeichnungen, alle aber, bis auf einen, den Hoheitsadler mit dem Hakenkreuz trugen. Dieser eine war mit knapp 21 Jahren der Jüngste von ihnen. Während die anderen im Kloster gearbeitet hatten, hielt er sich im Offiziershospital auf, wohin ihn Leutnant Mlynek, ein Mann vom NKFD, und der dort als Politinstrukteur tätige Berliner Kommunist und Emigrant Knittel, abkommandiert hatten. Von ihm wusste man wenig und das Wenige war widerspruchsvoll. Nur das eine war sicher: er wäre der einzige, der sich mit den Posten in ihrer Sprache hätte unterhalten können, außer Kaufmann natürlich, der als Sudetendeutscher gleich gut deutsch und tschechisch und in Folge seines von Kriegsbeginn an ständigen Einsatzes an der Ostfront auch polnisch und russisch sprach.

Nach dem langen Fußmarsch, im Lager angekommen wird eine Untersuchung durchgeführt und die Kriegsgefangenen werden in der Quarantänebaracke untergebracht. Dort werden die Einzelcharaktere und ihre Herkunft geschildert:

Die beiden hier anwesenden, Sepp und Rudi, waren zusammen mit Heinz Kaminsky, Jürgen Marlott, Hegelwald, Engler und einigen anderen bei der 384 ID [Infanteriedivision] gelandet, zu der die Panzergrenadierregimenter 533, 534 und 535 gehörten. Wiedergetroffen nach dem Durcheinander hatten sie sich erst im Lazarett Leschnjewo. Wie eng und echt ihre Kameradschaft sein mußte und auch war, konnte niemand in Zweifel ziehen. Frästorf und Sepp hatten sich in Beketowka kennen gelernt und schätzten einander sehr. Dann gab es noch Phillip. Er stammte irgendwoher aus dem Badischen und war der Älteste unter ihnen. Ihn hatte man schon 1938 zum Kriegsdienst gezogen. Dann wurde einer „Konzertmeister“ gerufen. Dieser hatte eigentlich Musik studieren wollen und wirkte gelegentlich als Geiger im Theaterorchester einer Kreisstadt im nordböhmischen Braunkohlenrevier mit, aus deren Gegend Sepp stammte. Er hieß Toni, pflegte sich der gehobeneren Sprache zu bedienen, wenn er überhaupt etwas sagte und schaute seinem Gesprächspartner über die starken Gläser seiner Gasschutzbrille hinweg immer gerade in die Augen, als wollte er irgendetwas ergründen.

Gleich beim ersten Gefecht war die zweite Kompanie restlos aufgerieben worden. Unter anderen waren Hegewald und Marlott gefallen. Heinz war einer der wenigen die einigermaßen heil davon gekommen waren. Hegewald war ein stämmiger, hochgewachsener Bursche, bescheiden und ruhig. Als Rekrut war er nur dadurch aufgefallen, daß auf seinen ein wenig groß geratenen Kopf kein Stahlhelm passen wollte. Jürgen Marlott war ungefähr so groß wie Heinz, der sich unter den anderen Rekruten seiner Gruppe klein ausnahm. Während der Übungen auf dem Truppenübungsplatz mußten die Kleinen meist die MG-Schützen II und III spielen, denn die Ausbildungsoffiziere Netzband, Schröder und … wie auch der Unteroffizier Papendick, ein eingezogener Schauspielereleve, der dem Herumkommandieren weder eine ästhetische noch eine ethische Seite abgewinnen konnte, in diesem besonderen Fall aber mit in das gleiche Horn tuten mußte, meinten, daß sich die kürzer gewachsenen besser zum Tragen der schweren Patronenkästen eignen, weil sie sich im Ernstfall vom Bodenrelief nicht so stark abheben. So war denn bei der ersten Feindberührung Hegewald als MG-Schütze I und Marlott als MG-Schütze II gefallen.

Er, Sepp und der aus Wien stammende Hibert hatten dort in der stupiden Rekrutenzeit eine „Künstlergruppe“, wie sie sich nannten, gebildet die mit ihrem Gesangstrio, Zauberkünsten, exotischen Stepptänzen, Musikalclowns, Parodien, Pantomimen und einer kleinen Tanzkapelle vor den Soldaten auftrat, in den benachbarten kleinen Städtchen mit großem Erfolg öffentlich gastierte und sogar die zu jener Zeit sehr beliebte Etzelbühne mit den ergreifenden Volksstücken in den Schatten stellte. „Jürgen – das war der große Magier, der nicht nur alle Kartenkunststücke beherrschte und dem aus Leipzig stammenden Oberleutnant Knösel ein Zweimarkstück nach dem anderen aus allen Löchern im Kopf zog, sondern der auch als Kaskadeur über die Bühne wirbelte um dann plötzlich mitten aus dem Zuschauerraum als Professor Filutek verkleidet die Szene zum Finale zu betreten. Das war Jürgen!“ sagte Sepp und dann war Ruhe.

Im Fragment werden auch noch weitere Namen genannt, wie der Lagerkommandeur Reinhold Schmitt und ein den Russen „Dr. Goffmann“ genannter deutscher Stabsarzt, also Dr. Hoffmann

1942 bis 1946

Krieg und Gefangenschaft

Vom 23.3.42 bis 1.7.42 wurde ich beim 465. I.E.B. [Infanterie Ersatz Batallion] in Neustadt an der Mettau ausgebildet. Vom 1.7.42 bis zum 15.9.42 war ich auf einen Unterführerlehrgang nach Josefstadt (C.S.R.) abkommandiert. Bereits am 1.10.42 wurde ich nach einem kurzen Einsatzurlaub an die Front abtransportiert, wo ich am 20.11.42 im Raum von Stalingrad dem 523. I.R. [Infanterie Regiment], 384. I.D. [Infanterie Division] zugeteilt wurde. Nach dem Rückzug der VI. Armee nach Stalingrad kam ich in der Nacht des 29.12.42 zum  ersten Fronteinsatz. In dieser Nacht begab ich mich in sowj. Kriegsgefangenschaft. Bis April 1943 nahm ich am Vormarsch der Roten Armee auf Rostov teil und kam nach zweifacher Verwundung in das Kriegslazarett Stalingrad und anschließend in das Kriegsgefangenenlager 108, danach 160 und 190. Am 23.9.1948 wurde ich aus sowj. Kriegsgefangenschaft entlassen.

So kurz und knapp klingt das im Lebenslauf von 1950. Problematisch wird es erst, wenn man ein wenig tiefer geht. Da ist zum Ersten das Arbeitsbuch Nr. 1331 / 013636 vom 3.2.1954, Rat des Stadtbezirkes XI der Stadt Leipzig, in dem von 1944 bis 1946 ein Studium an der Universität Ulan Bator M.V.R. (Mongolische Volksrepublik) eingetragen ist. Passend dazu sind auch sämtliche  Karten aus der Kriegsgefangenschaft vorhanden, der Schriftverkehrs beginnt allerdings  erst im 2. Halbjahr 1946.
Im Lebenslauf aus den 70ern heißt es:

Ende 1942 begab ich mich anlässlich eines Stoßtruppunternehmens in sowjetische Gefangenschaft. Ich blieb bei der kämpfenden Truppe und kam nach der Schlacht von Kursk/Belgorod in das Kriegsgefangenenlager (August 1943) in Wladimir /701/ , in dessen Haupt- und Nebenlagern ich verschiedene leitende Funktionen bekleidete. Hier lernte ich auch Russisch.

Auf einer Postkarte im Herbst 1946 aus dem Lager 7190/III an seine Eltern schreibt er:

Mir geht es gut, bin gesund und wohlauf. 70 kg. 173 cm. Also keine Ursache zu irgendwelchen Beunruhigungen. Im Augenblick mache ich Übersetzungen aus dem englischen ins russische. Das ist eine schöne Arbeit, aber viel.

Die Englischkenntnisse lassen sich aus dem Berlitz–Lehrgang von 1941/42 erklären, die russischen Sprachkenntnisse muss er sich von 1943 bis 1946 angeeignet haben. Allerdings lässt sich vermuten dass ein zumindest ein Lehrgang nötig ist um die erforderlichen  Sprachkenntnisse zu erwerben.  Darüber findet sich  nichts in seinen Hinterlassenschaften.
Es gibt also auch hier Ungereimtheiten. Sehen wir mal wie es weiter geht.

Kindheit und Jugend

Geschichten, Geschichte und Erinnerungen

Im Folgenden werde ich die Geschichte meines Vaters, aus Familiengeschichten, Dokumenten und Erinnerungen, rekonstruieren.

Josef Köhler wurde am 18.03.1923 als Sohn des Tischlermeisters Anton Köhler und der Schneiderin Philomena Köhler in Fleyh (CSR) geboren. Das ist definitiv klar, Geburtsurkunden, Grundbesitzurkunden, der Meisterbief meines Großvaters und andere Dokumente sind in meinem Besitz.

Aber lassen wir ihn selber sprechen: Zitat aus seinem Lebenslauf vom 05.04.1950

Vom 1.9.34 bis 2.2.1939 befand ich mich im bischöflichen Knabenseminar in Mariaschein, Krs.-Teplitz-Schönau, wo ich das angegliederte Jesuitengymnasium besuchte. Im Februar 1939 wurde dieses Internat, durch die Besetzung des sogenannten Sudetenlandes, aufgelassen und die Schüler wurden an öffentliche Lehranstalten überwiesen .

Vom Februar 1939 bis Februar 1941 besuchte ich das Gymnasium in Brüx und anschließend bis Juni 1941 das Gymnasium in Dux.

Zum Besuch des Knabenseminars gibt es viele Familiengeschichten. Meine Großmutter hatte ihren ersten Sohn für den Priesterstand vorgesehen.  Streitigkeiten der Familien meiner Großeltern, der Wunsch meiner Großmutter selbst Nonne zu werden und Ähnliches gehören in die Kategorie Geschichten.

Weiter sagt er:

Von 1.6.39 bis August 1940 war ich Mitglied der H.J., ich war Angehöriger der H.J. Banntheatergruppe und wurde im August 1940 aus der H.J. Entlassen, da ich zu tschechischen Freunden, mit denen ich das gemeinsam das Internat in Mariaschein besucht hatte, enge Verbindung und Freundschaft hielt. Diese Maßregelung und Entlassung aus der H.J. Führte dazu, daß ich meine Gymnasialausbildung nicht abschließen konnte und am 23.3. 1942 zur Wehrmacht eingezogen wurde.

Hier mache ich einen Absatz und zitiere aus einem anderen Lebenslauf aus den 70er Jahren:

Nach der Musterung 1941 erhielten wir das Kriegsabitur, wonach ich im Herbst 1941 in Leipzig an der Berlitz-scool einen Englischintensivlehrgang belegte, der im Februar 1942 abgeschlossen war.

Die  Familiengeschichte geht eigentlich so, dass mein Vater  1953 aus der russischen Kriegsgefangenschaft kam  und zufällig in Leipzig landete.

 

Es gibt also schon im Zeitraum 1923 – 1942 Differenzen zwischen der Familiengeschichte und den Dokumenten.
Im den nächsten Artikeln werde ich die Zeit von 1942 bis 1953 schildern.

Soldat, Kriegsgefangener und Neuanfang